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Ersi Sotiropoulos, Frau Laiston in Psilalnia

  969 Wörter 3 Minuten 923 × gelesen
2017-04-28 2017-04-28 28.04.2017

Zuerst war da Frau Laiston. Sie hatte ein sehr schönes Haus im Stadtteil Psilalónia, wohin sie mich zu den unglaublichsten Zeiten einlud und mir zusammenhangloses Zeug erzählte. Von ihrem Fenster aus schauten wir gemeinsam auf den Platz, das Pflaster glänzte im Licht des Regens und die Palmen schwenkten ihre gerupften Zweige wie verwundete Flügel. Ich traf sie ziemlich häufig, manchmal sogar jeden Tag. Damals ging ich in den Kindergarten, und ich erinnere mich an meine Eltern, wie sie mir gegenüber saßen und den Geschichten von Frau Laiston mit zweideutigem Lächeln zuhörten.

Wenige Jahre später kam ich an einem eiskalten Nachmittag von der Schule nach Hause. Es war schon dunkel geworden und als ich die erleuchtete Küche betrat, erinnerte der Raum an eine elektrische Krippe, die Scheiben waren matt und beschlagen und die Blicke meiner Eltern durchbohrten mich wie unergründliche Masken. Ich verkündete ihnen, daß mich ein junger Mann mit einem Fahrrad begleitet hatte. „Bist du auf das Fahrrad gestiegen?“, fragte meine Mutter, wobei sie versuchte, ruhig zu bleiben. „Nein, wir sind zusammen gelaufen“, antwortete ich. Sie fragte mich nach Einzelheiten, und ich sagte ihr, daß der junge Mann zwanzig Jahre alt war, daß er in einer Schreinerei arbeitete und daß er wieder kommen würde, um mich zu sehen. Am nächsten Tag ging meine Mutter mit mir zusammen zur Schule und redete auf dem Flur, bevor die Glocke läutete, kurz mit der Lehrerin. Bei Schulschluß wartete sie draußen auf mich. Etliche Tage gingen wir denselben Weg, die Kanári-Straße entlang, hinter dem Gerichtsgebäude her, ich vorneweg als Köder, und meine Mutter folgte mir verstohlen wenige Meter hinter mir. Der junge Mann tauchte nie auf. Jahre später gestand ich ihr, daß der junge Mann mit dem Fahrrad meine Erfindung war. Sie schien nicht überrascht zu sein, das hatte sie bereits vermutet. 

So war meine Beziehung zu Patras. Keine Beziehung, eher eine Geste, die ständig zwischen dem Wirklichen und dem Phantastischen hin- und her pendelt. Für mich sind alle Orte der Stadt beseelt, von mehr oder weniger mythischen Personen. Frau Laiston in Psilalónia. Der junge Mann mit dem Fahrrad in der Kanári-Straße hinter dem Gerichtsgebäude. Und dann? Der Taxikönig. Ein Taxifahrer mittleren Alters, der mich, dieses Mal in Wirklichkeit, verfolgte und wenn er mich manchmal erwischte, seine Scheibe herunter kurbelte und mir das Blaue vom Himmel versprach, daß er mich in Samt und Seide hüllen würde, daß er mich mit Gold überschütten würde usw. Am Trión-Symmáchon-Platz war sein Taxistand, vor dem Kiosk mit den ausländischen Zeitschriften - dem einzigen damals - und er sagte mir, daß er der Vorsitzende seiner Innung sei, daher der Name Taxikönig.

Einmal brauchte ich seine Dienste. Ein Typ, der sogenannte „Mensch“, hatte sich entschlossen, in der Wohnung seiner Schwester, die in den Tagen nicht da war, eine Party zu feiern, und er bat mich, ihm aus dem Kreis meiner Mitschülerinnen und Freundinnen das weibliche Element zu sichern. Einer Eingebung des Augenblicks folgend ging ich zum Trión-Symmáchon-Platz, stieg ins Taxi des Königs, und wir begannen, die Konditoreien der Innenstadt abzufahren. Es war früh am Abend, die ersten Jahre der Diktatur, eine Zeit leidenschaftlicher Schmachtschnulzen. Die Männer schlugen mit fiebrigen Blicken ihre Zeit tot, indem sie sorgfältig angerührten Nescafé tranken und Zigaretten der Marke Astor rauchten. Vor jeder Konditorei hielt der König das Taxi an und ich ging hinein. „Habt ihr Lust, auf eine Party mitzukommen?“, fragte ich. Alle standen bereitwillig auf und folgten mir. Wir luden sie in der Wohnung des Menschen ab und fuhren zurück, um noch mehr aufzulesen. Männer, die sich nicht kannten, drängten sich in jener Nacht im Wohnzimmer des Menschen zusammen, tranken Wermut und aßen Erdnüsse. Vielleicht amüsierten sie sich. Das Ereignis wurde als die Männerparty bekannt.

Mit der Pubertät verschlimmerten sich die Dinge. Die Straßen der Stadt wurden mir zu eng. Ich fand eine neue Freundin, die Oktopus-Diva - ein mutiges Mädchen mit herrlichen Beinen. Die Agíou-Nikoláou-Straße, die von der venezianischen Festung und den Treppen direkt in die Unterstadt führt und schnurgerade ins Meer fällt, war für uns die Via Crucis, Schulweg und Ort zum Blaumachen. Dank der Oktopus-Diva lernte ich ein anderes Patras kennen, eine verborgene Stadt, voller Faszination, das Tabáchana-Viertel, die Armengegenden, ein Labyrinth von Gassen, eine neue, verworrene Welt, halb betrunken, im Gegensatz zu der melancholischen, in Planquadrate eingeteilten Stadt, die ich bis dahin kannte. 

Es war eine Zeit für die Liebe und eine Zeit für das Schreiben. Tage des Konflikts und der Wut. Tote Nachmittage, an denen sich der Geschmack der Stadt zu einem Gefühl verdichtete, das jemand hat, der am frühen Abend mit schwerem Kopf mühsam atmend aufwacht. Beim Blick aus dem Fenster war es bereits dunkel geworden und ein Nieselregen ging nieder. Oder vielleicht war es auch heiß, war es drückend schwül und die Haut klebte von der dichten, feuchten Luft. 

In der Unterstadt passierte nichts. Der Georgíou-Platz verlassen, leer die Stühle der Kafenion, in der Luft ein Geruch von Sonntag. Und jedes Jahr die gleiche Totenfeier des Karnevalsumzugs. Einsame Lumpengestalten und verstreute Maskengruppen, die zum Nachhall einer entfernten Musik herumwirbelten. Vogelscheuchen, die vor dem fahrenden Fotographen in der Schlange warteten, um ihre Trauerfreude zu verewigen. 

 Es war eine schwermütige, dumpfe Stadt voller Donnerstage und voller Fernsehantennen. Jetzt hat sie sich natürlich verändert. Auch ich habe mich verändert, es gibt keine unbeglichenen Rechnungen. Wenn ich hinter mich zurückblicke, ist das Einzige, das ich inmitten einer trüben Sumpfatmosphäre erkenne,  Frau Laiston, die charmant und unberechenbar mit ihrem Sonnenschirmchen die Landschaft durchquert und mir verschwörerisch zuzwinkert. Etwas weiter entfernt kommt der junge Mann mit dem Fahrrad.  

Übersetzung: Doris Wille
Die Erstveröffentlichung erfolgte in der Zeitschrift lettre International, Heft 54, III. Vj 2001. Wir bedanken uns bei Ersi Sotiropoulos, ihrer Übersetzerin Doris Wille und bei der Zeitschrift lettre International für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieser Erzählung. Dank gebührt auch unserem Redakteur Theo Votsos, der sich um die Vermittlung und Kontaktaufnahme gekümmert hat. 

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